Kapitel 12 (Auszug)

In diesem letzten Kapitel soll die größte Falle angesprochen werden, in die man bezüglich der Vorgesetzteneinschätzung tappen kann: den Glauben vom Allerweltsheilmittel Teamgeist.

Ja, Teamgeist ist wichtig. Er führt uns durch Untiefen und schwierige Situa­tionen, indem wir alle miteinander am gleichen Strick ziehen und uns gegenseitig stützen. Er hat aber auch seine Grenzen, die, wenn man keine Vorkehrungen trifft, geradewegs in die Katastrophe führen werden.

12.1 Gruppe, Teamgeist, Wir-Gefühl

Unter einer Gruppe verstehen wir eine Reihe von Personen, die in einer bestimmten Zeitspanne häufig miteinander Umgang haben und deren Anzahl so gering ist, dass jede Person mit allen anderen Personen in Verbindung treten kann, und zwar nicht mittelbar über andere Menschen, sondern von Angesicht zu Angesicht. (Homans, C. George (1965): Theorie der sozialen Gruppe, Köln: Westdeutscher Verlag. Original: The Human Group, Harcourt, Brace and Company.)

Vorgesetzte, die sich für ihre unmittelbar Untergebenen unnahbar machen oder sich kommunikativ abweisend geben, so dass diese sich nicht trauen, ihren Chef «zu stören», verhindern also den von Homans geprägten Grundbegriff der Gruppe. Fragen Sie sich daher, inwieweit Sie selbst von diesem Grundbegriff in Ihrem Unternehmensalltag entfernt sind. Sind Sie Teil der Gruppe, die Sie führen? Oder handelt es sich um eine Herde Schafe, die Ihnen (anscheinend) bereitwillig folgt?

In den heiligen Hallen der Personaldirektion schwingt das Wort vom Teamgeist und Wir-Gefühl. Gemeinsam sind wir stark. Das Team hat einen Teamleiter, der Chef hat ausgedient. Teamgeist-Seminare werden angeboten und besucht, der vielbeschworene Teamgeist zuckt durch die Seelen und Gehirne der Teilnehmer, das Du wird angeboten und herumgereicht. Die glückliche Gruppe schwelgt im wohligen Wir-Gefühl. Nichts kann uns mehr aufhalten. Wir sind die Gruppe, das Team. Die Zukunft soll nur kommen, wir sind für sie gerüstet. Wie lieben uns, wir verstehen uns — bis zum Ende des Seminars plus drei Tage. Dann packen wir den Teamgeist wieder in seine Flasche.

Gerne wird die Vorgesetzteneinschätzung als gutgemeintes Mittel verstanden, um kooperative Führung und Zusammenarbeit zu erreichen. Mir gefällt diese funktionale Einengung nicht, aber sie ist leider weit verbreitet. Mit diesem Denkmodell kann allerdings gehöriger Missbrauch getrieben werden. Deshalb muss die Rede von den Gefahren zu großer Teamgeister sein, die sich dann eben nicht mehr in ihre Flasche zurückstoßen lassen. Nicht jeder mag dies im ersten Augenblick nachvollziehen können, wenn man nämlich sieht, wie weit die Meinungen über die Führungsarbeit des Vorgesetzten zwischen dessen Selbstbeurteilung und derjenigen seiner Mitarbeiter auseinanderklaffen. Sofort überlegt sich der schlaue Berater oder Personalchef, wie er diesen zerrütteten Haufen Menschen zu einem Team »zusammenschweißen» könnte. Sobald Sie aber erfahren haben, welche Katastrophe ein zu dominanter Teamgeist auslösen kann, werden Sie vielleicht anders denken. Dann, so hoffe ich, werden Sie nicht voreilig zu Aus- oder Fortbildungsmaßnahmen greifen, die dem Team seinen Geist mit dem Trichter einflößen, ohne zugleich zu verhindern zu suchen, dass daraus eine gefährliche Eigendynamik entspringt, die klares Denken nicht mehr zulässt ……..

12.2 Gruppendenken
(Die folgenden Ausführungen basieren auf dem Buch von Irving L. Janis (1972): Victims of Groupthink. A psychological study of foreign policy decisions and fiascos, Boston: Houghton-Mifflin. — Soweit direkt zitiert wird, stammt die Übersetzung von Voltz.)

Gruppendenken ist keineswegs nur auf Menschen mit «niedrigem Bildungsniveau» beschränkt, auf einfältige und leicht beeinflussbare Zeitgenossen, die «sowieso jedem Blödsinn» nachlaufen und keine Charakterstärke besitzen. Gruppendenken erscheint sogar außerordentlich wichtig, will man als Team etwas gemeinsam erreichen. Je weitgehender man sich auf die Handlungen der anderen Teammitglieder verlassen kann, desto mächtiger ist die Gruppe. Dieser Effekt hat zweifellos seine starke positive Seite.

Der Amerikaner Irving Janis, Professor an der Yale University, untersuchte das Phänomen des Gruppendenkens anhand großer politischer Entscheidungen und kam zu eindrücklichen Ergebnissen. Wie, so fragte er sich, hatte es John F. Kennedy und seinem Beraterstab geschehen können, einen dermassen dummen und zusammengeschusterten Plan zu akzeptieren, wie die CIA-Vertreter ihn vorgelegt hatten, um Fidel Castro von der Macht in Kuba zu vertreiben? Gemeint ist das Debakel in der «Schweinebucht» (Bahia de Cochinos). Janis analysierte, dass es sich hier um eine Gruppenentscheidung gehandelt hatte, auch wenn das letzte Wort beim Präsidenten lag.

……

Von den vier Faktoren, die später offiziell als Erklärung für das Debakel an der Schweinebucht dienten, ist an dieser Stelle ein Punkt sehr bemerkenswert: «Die Bedrohung der persönlichen Reputation und des Status». Janis:

Wie auch die meisten Führungskräfte in anderen Organisationen, zögern diejenigen in der Regierung, die die Richtung bestimmen, einer Politik zu widersprechen, wenn sie der Meinung sind, dass ihre offene Opposition ihren persönlichen Status und ihre politische Effektivität beschädigen könnten. In seiner Darstellung des Schweinebucht Fiaskos gibt Schlesinger zu, dass er damit zögerte, seine Einwände anzubringen, als er die Sitzungen im Weißen Haus besuchte; und zwar aus Angst davor, dass andere es als von ihm anmaßend betrachten würden, wenn er, ein College-Professor, sich mit erlauchten Führern bedeutender Regierungsinstitutionen anlegen würde.

In früheren Regierungsformen gab es den Hofnarren. Er durfte Dinge sagen, für die andere geköpft oder geteert und gefedert wurden. So konnte er seinen König vor mancher Dummheit bewahren. Man sollte ihn vielleicht nicht nur bei Regierungen wieder, sondern auch in Unternehmen einführen: den professionellen Querdenker.

Janis beschreibt seine Hypothese des Gruppendenkens wie folgt:

Die Mitglieder einer kleinen, kohäsiven Gruppe tendieren dazu, einen Corpsgeist aufrechtzuerhalten, indem sie unbewusst eine Reihe von gemeinsamen Illusionen und sich darauf beziehenden Normen entwickeln, die kritischem Denken und der Überprüfung in der Realität entgegenstehen.

Diese Illusionen schauen wir uns jetzt an.

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