(Einführung: Dieses Kapitel meines Buches “Dialoge mit Sokrates” beginnt, nachdem Sokrates, der grosse griechische Philosoph, und ich uns mit Politikern in Bonn angelegt hatten. Einen zweiten Tag wollte ich nicht riskieren, mit dem vorlauten Philosophen in Bonn zu verweilen. So begaben wir uns also mit dem Zug zurück nach Zürich.)
Schliesslich fanden wir in einem Abteil Platz, in welchem ein etwa 30jähriger Jungmanager sass. Wie ich seinen Beruf erriet? Nun, auf zwei freien Sitzen hatte er allerlei Managementliteratur verstreut und war selber in irgendein Buch vertieft. – Ein philosophisches Werk sah ich nicht. Und Sokrates wäre nicht mehr Sokrates gewesen, hätte er die Gelegenheit nicht genutzt, um sofort wieder unangenehm aufzufallen. Zurückhaltung war ihm fremd.
«Ich grüsse dich, junger Mann,» begann Sokrates sein verbales Schachspiel mit der klassischen und scheinbar unverfänglichen Sokrates-Eröffnung (sokratischer Bauer von e2 auf e4).
Der Gegrüsste warf uns einen flüchtigen Blick zu, murmelte kopfnickend etwas und versenkte sich erneut in das Buch. Dessen Titel konnte ich nun, da ich dem zweifellos dynamischen jungen Mann gegenübersass, lesen: «Mit Macht zur Macht» von John Thunderstorm aus der Buchreihe «Power-Management» eines grossen Verlages. Sicherlich dachte der Jungmanager, dass wir zwei Touristen seien und uns versehentlich in die erste Klasse verirrt hatten.
Wir beobachteten unseren Mitreisenden, wie er sich einem geheimnisvollen Ritual hingab. Er versenkte sich in das Buch, schloss anschliessend die Augen, richtete seinen Kopf gen Himmel, murmelte andächtig irgend etwas in seinen nicht vorhandenen Bart, blickte wieder in das Buch, schloss wieder die Augen, und so weiter.
Eine Viertelstunde nach Abfahrt des Zuges entschuldigte sich unser Mitreisender für kurze Zeit. Kaum war er aus dem Abteil, griff Sokrates nach dem offen daliegenden Buch und schaute hinein. «Das kann ich nicht lesen, das muss in Eurer Sprache geschrieben sein. Sag mir, was dort steht.»
Und als ich sah, was dort geschrieben stand, da wusste ich, dass es mit unserer beschaulichen Bahnreise nach Hause vorbei war:
Mit Macht zur Macht – 7 Regeln für den Machtsuchenden
Wenn Sie den Posten Ihres Vorgesetzten haben wollen, oder wenn Sie wollen, dass er oder einer Ihrer gleichrangigen Kollegen seinen Job verliert, dann lernen Sie die folgenden eisernen Regeln auswendig und setzen Sie sie konsequent in die Tat um:
1. Sprechen Sie schlecht über die andere Führungskraft. Sowohl gegenüber ihren Mitarbeitern als auch gegenüber Ihren Gleichgestellten. Sollten Sie gute Beziehungen zu einem mit Ihrem Chef gleichrangigen oder sogar noch höheren Vorgesetzten haben, dann praktizieren Sie auch dort das Schlecht-Reden.
2. Untergraben Sie die Autorität des Vorgesetzten, indem Sie bei seinen Untergebenen dessen Anordnungen als «überflüssig,» «fehl am Platz,» «inkompetent,» etc. bezeichnen.
3. Nicken Sie zustimmend bei jedem, der sich kritisch über die Führungskraft äussert. Nehmen Sie die Kritik nie einfach nur zur Kenntnis, und prüfen Sie vor allem nicht unvoreingenommen, ob etwas dran ist. Setzen sie immer noch eins oben drauf!
4. Machen Sie bei Sitzungen einen leicht abfälligen Gesichtsausdruck oder zeigen Sie ein «gütiges» Lächeln, sobald sich der Betreffende äussert.
5. Machen Sie Scherze über den Kollegen oder Vorgesetzten, die auf dessen Kosten gehen, verletzend sind oder so wirken.
6. Kommt der Betreffende in Ihr Büro und erzählt Ihnen etwas, dann arbeiten Sie in Ruhe weiter Ihre Post ab.
7. Wenn der Betreffende während einer Sitzung etwas vorträgt, dann beschäftigen Sie sich mit irgendwelchen Notizen oder lesen Sie laut raschelnd die Zeitung – bestrafen Sie ihn also mit Nicht-Beachtung.
Viel Erfolg auf Ihrer Karriereleiter!
Ich hatte schon gemerkt, dass es Sokrates schwergefallen war, mir bis zum Ende zuzuhören. Ganz unruhig war er auf seinem Sitz hin- und hergerutscht. «Solche Bücher gehören verboten. Wer hat es nur gewagt, dieses Buch zu veröffentlichen?!» Und im letzten Augenblick konnte ich verhindern, dass Sokrates mir das Buch aus der Hand riss, um es aus dem Zugfenster zu werfen. Da kam auch schon der Besitzer dieses zweifelhaften Druckerzeugnisses zurück. Er hätte es besser bleiben lassen.
«Junger Mann,» hob Sokrates an, «welch’ teuflischer Geist hat von dir Besitz ergriffen? Das Buch ist voller Schlechtigkeiten. Und du willst ein Mensch sein?»
«Jetzt werden Sie nicht frech, alter Mann. Wer hat Ihnen erlaubt, in meinem Buch zu lesen? Was Sie unter «Mensch» verstehen, ist mir egal. Für mich gibt es nur eins: Ärmel zurückkrempeln, Ellbogen ausfahren und mit Volldampf voraus.»
«Aber deine Seele, Jüngling, deine Seele,» mahnte der besorgte Sokrates.
«Erstens bin ich nicht Ihr Jüngling sondern heisse Peter Schmidt und bin Abteilungsleiter bei einer grossen deutschen Bank. Und zweitens: Was kümmert mich meine Seele. Sie macht mich nicht satt und finanziert mir auch nicht meinen Lebenswandel. Die Seele ist etwas für Klosterbrüder und Sektierer.»
Sokrates hatte Einsicht. Immerhin bestand ja noch Hoffnung für diesen zwar ungebildeten, aber noch jungen Barbaren: «Über die Seele wollen wir uns nun also nicht unterreden. Aber über die Macht soll das Wort geführt werden. Denn diese begehrst du sehr, nicht wahr?»
«Oh ja, wer keine Macht hat, der ist verloren.»
«Die Macht aber ist schwierig, denn sie kann grosses Heil und ebenso grosses Unheil bringen. Vielleicht kann ich dir ja helfen, noch viel mächtiger zu werden, als dein Buch es verspricht.»
Da stellten sich die Ohren seines Gegenübers auf und seine Augen wurden gross: «Da bin ich aber sehr gespannt.»
«Betrachten wir also die Machtempfehlungen, welche du wohl inzwischen auswendig rezitieren kannst. Es heisst, du sollst schlecht über andere Führungskräfte sprechen. Ob das aber die Wahrheit ist, darüber steht dort nichts.»
«Muss es ja auch nicht, denn wenn ich an die Macht will, dann ist der Schein wichtiger als das Sein.»
«Aber ist der Schein denn nichts anderes als Illusion, aus dunstigem Nebel entstandenes Nichts, dem die Einbildung und die Unwissenheit der Menschen erst zu seiner Existenz verhilft?»
«Ja, so könnte man das auch sagen. Aber vieles in der Geschäftswelt beruht auf eben diesem Schein. Dem Schein, den man wahren will und dem Schein, den man erzeugen will.»
«Dann,» so fragte Sokrates, «sind wir uns vielleicht auch in folgendem einig: Sieht man nicht manchen Ortes gar hübsche Frauen, begehrenswerter als alles andere. Und muss man nicht, wenn man sie näher kennenlernt, feststellen, dass sie nichts als borstige Giftspritzerinnen sind?»
«Ich muss dir recht geben. Man weiss auch nicht genau, ob sie einem wegen des Geldes nachlaufen oder wegen wahrer Verbundenheit. Und für manchen ist es schon zu spät, weil er sich schon fest mit ihr verbandelt hat.»
«Bei Frauen also sind wir uns einig, dass der Schein gefährlich sein kann.»
«Ohne Zweifel.»
«Männer wiederum locken oft mit Geld und teuren Fahrzeugen, auf dass die Schönen ihnen verfallen, ohne den Schein zu erkennen. So lockt ein Schein den anderen.»
«Na ja, man zeigt halt gerne, was man hat.» kam die Rechtfertigung.
«Auch beim Geschäftemachen wird häufig der Schein zu Hilfe genommen, wie du ja schon sagtest. Und um unentdeckt zu bleiben, muss man schliesslich Verschwörungen anzetteln und geheime Bünde bilden.»
«Genau, denn ganz alleine kommt man nicht an die Macht, sondern man braucht gute Freunde, die einem dabei helfen.»
«Was aber, wenn diese Freunde eines Tages meinen, du hättest zu viel Macht? Wirst du dann nicht, um deiner Macht sicher zu sein, zum Schwert greifen und sie so auf ewig zum Schweigen bringen müssen?»
«Da muss ich sie halt bestechen. Mit schönen Posten, mit Schweigegeld, mit goldenen Fallschirmen, kurz, mit allerlei Freundschaftsdiensten, wie man sie sich ja gerne gegenseitig erweist.»
«Du verstehst dich auf den Gebrauch der Macht,» lobte ihn Sokrates anscheinend.
«Oh ja, ich lerne schnell.»
«Und deinen Freunden, die dir zur Macht verholfen haben, ermöglichst du ein angenehmes Leben, so wie sie auch dir zu einem angenehmen Leben verholfen haben.»
«Eben, und damit ist das Gesetz vom Geben und Nehmen erfüllt. Alles ist ausgeglichen.»
«Wenn da nur nicht ein Problem wäre,» meinte Sokrates.
«Problem? Ich sehe keines.»
«Dann sage mir, Peter: . . . . .