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Teil EINS

KAPITEL 1: DEFINITION Vorgesetzteneinschätzung

1.1 Klartext

Offen gesagt, ist die Vorgesetzteneinschätzung nichts anderes als eine Krücke. Sie scheint in der heutigen Zeit offenbar dringend notwendig, um normale, menschliche Kommunikation zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern wieder – oder erstmals – zu ermöglichen. Kommunikation, die sich ansonsten aus Angst der Mitarbeiter vor möglichen beruflichen Konsequenzen nicht mehr bewerkstelligen läßt. Kommunikation, die Vorgesetzte häufig verlernt haben, weil sie Zeit mit der Sicherung ihrer Position, mit Machtspielen, mit der Wahrung scheinbarer Autorität und der Anhäufung von gewinnversprechendem Wirtschaftswissen verbringen müssen. Oder Kommunikation, die Vorgesetzte noch nie erlernt haben, weil ihnen an den Universitäten zwar Ökonomie in Reinkultur beigebracht wurde, das Menschsein dabei aber auf der Stecke blieb. So sieht die Realität in großen Teilen der Wirtschaft aus, und die Kaderschmieden der Ökonomie züchten neue Generationen von Managern heran, deren Persönlichkeit und Fähigkeit zum eigenen Denken auf dem Weg die Karriereleiter hinauf abhanden kommen. Diese besondere Art Mensch beschreibt Prof. Peter Ulrich, Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen, wie folgt:

Ist es Ihnen aufgefallen? In der soeben zu Ende gegangenen Saure-Gurken-Zeit dieses kühlen Sommers sind Gestalten wie ‘Nessie’ (im Loch Ness) oder ‘Yeti’ (im Himalaya) nicht wie sonst üblich in den Medien gesichtet worden. An dieser Stelle treibt derzeit eine andere unheimliche Gestalt ihr Unwesen. Es handelt sich um einen auffallend klugen, aber etwas einseitig begabten Burschen, stark im Nutzen-Kosten-Rechnen, aber schwach in seinem Verständnis zwischenmenschlicher Fragen und außerdem ein heimatloser Geselle. Sein Name ist Homo oeconomicus. Er sieht auf den ersten Blick wie ein Mensch aus, ist aber ein in akademischen Labors gezüchtetes … Konstrukt. Das Problem mit H.O. ist, daß er eine ansteckende Krankheit, den Bazillus neoliberalis, im Volksmund ‘H.O.-Wahnsinn’ genannt, verbreitet; mittlerweile sind praktisch sämtliche Ökonomieprofessoren unheilbar infiziert, und leider zeigt auch der gesunde Menschenverstand unverbildeter Leute eine abnehmende Immunität dagegen.*

Tatsächlich könnte man sagen, daß arbeitende Menschen in großem Umfang Invaliden sind, genauer: Kommunikationsinvaliden. So gesehen und bei genauerer Betrachtung müßte man vielleicht überlegen, inwieweit diese Kommunikationsunfähigkeit nicht sogar als Berufsunfähigkeit zu bezeichnen wäre.

Versuchen wir deshalb, mit Hilfe der Vorgesetzteneinschätzung aus den Invaliden wieder gesunde Menschen zu machen. Vorgesetzte, die bereit sind, offen Lob und Kritik von allen Seiten zu empfangen; Mitarbeiter, die die Sorgen und Nöte ihrer Chefs verstehen und mit ihnen offen über ihre eigenen reden können, ohne Gefahr zu laufen, bei der nächsten Lohnrunde oder beim nächsten Arbeitsplatzabbau eine unangenehme Quittung dafür zu erhalten.

Nennen wir die Vorgesetzteneinschätzung ab jetzt aber nicht mehr ´Krücke´, sondern ein ´Instrument moderner Unternehmensführung´. Das klingt doch viel besser, nicht wahr?

*Ulrich, P. (1996): in Arbeitsblätter des Schweizerischen Arbeitskreises für ethische Forschung, Nr. 36, November 1996, S. 17