Der König von Alarosien

Er war gewählt worden. Doch er fühlte sich als König:  «Nein, ich will nicht nur der Oberanführer meiner Partei sein, ich bin der König aller Untertanen von Alarosien!», exklamierte der nun zum König Gewordene:  Alfonso Primero,  Alfonso der Erste.

Was macht ein frischgebackener König, wenn er sich noch überlegt, wie seine Statue auf dem Dorfplatz wohl in einigen Jahren aussehen müsse und welchem Künstler er diesen aus der Dorfschatulle zu finanzierenden kulturellen Beitrag an das Dorf zuschanzen sollte? Ein frisch gebackener König setzt Zeichen. Deutliche Zeichen! Schon immer besteht ein Amt der Macht aus der Macht als solcher sowie den vom Machtinhaber gesetzten Zeichen, damit ein jeder sehe: Der hier hat die Macht. Ihm will ich dienen. Widerspruch könnte für mich von grossem Schaden sein. Meine minderwertigen Ansichten behalte ich besser für mich.

Und weil alle Bürger diese Zeichen sehen sollten, beschloss der König von Alarosien, einen Grossteil der Verkehrszeichen zu ändern. Zeichen! Dutzende! Hunderte! Am liebsten gefielen ihm die Roten mit dem weissen Querbalken. Sie hatten etwas machtvoll Erotisches an sich, das ihn in seinen Bann zog. Schon immer hatte Alfonoso Primero die Bürgermeister der grossen Städte bewundert, wie sie mit einem Federstreich Tausende und Abertausende von Verkehrsteilnehmer in völlig neue Bahnen lenken konnten.  Von heute auf morgen verunsicherten sie unzählige Motoristen, liessen sie spüren, was wahre Macht bedeutet  und förderten damit zugleich regelmässig das Motorfahrzeuggewerbe durch erhöhte Reparaturaufträge. Vor einigen Jahren hatten sie in Alarosien schon einmal einen vom Schilderwahn Besessenen gehabt; und der hatte an sämtlichen Kreuzungen Schilder anbringen lassen, da er der Überzeugung gewesen war, die Bürger Alarosiens seien zu blöd, um die Grundregel „rechts vor links“ zu verstehen. Das alles erinnerte den König auch stets an glückliche Zeiten, als er als Knabe im zarten Alter von sechs oder sieben Jahren am Strande Kanäle in den Sand zog, worin dann Ameisen auf Blättern in den von drei Eimerchen voller Wasser ausgelösten Sturzfluten zu Tode kamen. Macht! Flüssig und unüberwindlich — für die Ameisen.

Nunmehr aber setzte Alfonso Primero seine Zeichen! Mit Geschick und mit Bedacht. Eben eines Königs würdig. Zunächst liess der König sein Büro in den grossen Ratssaal verlegen. Hier konnte man würdige Audienzen abhalten, und die Bittsteller würden genügend Respekt bekunden können, indem sie schon von weitem auf die Knie fallen und, wohl distanziert, gesenkten Blickes ihre Anliegen vorbringen oder  -stammeln würden.

Im Königssaal wurde ein kleines Podest errichtet, mit rotem, samten weichem Teppich überzogen, und darauf dann ein aus bestem Olivenbaumholz geschnitzter, reich verzierter Thron. Darin waren die wahren Insignien aller Machthaber eingelegt, kunstvolle Intarsien aus Eisen: Der Goldbarren und die neunschwänzige Katze. Und der König von Alarosien,  Alfonso Primero, fühlte sich wohl. Wenn er des Morgens das Eingangstor seines Schlosses am Dorfplatz durchschritt, grüssten ihn adrett gekleidete Polizisten und Polizistinnen mit strenger Mine, schmetterten ihm schon vor der ersten Treppenstufe die Verwaltungsangestellten lautstark „Alfonso befiehl, wir folgen Dir“ entgegen und klimperte der Tresorwächter lautstark mit dem Geldschatz des Dorfes, über welchen Alfonso Primero verfügte, wie es ihm gefiel. «Was mir gefällt, gefällt dem Dorf», war einer seiner Leitsprüche.

Von seinem Thron aus konnte der König von Alarosien den Dorfplatz bestens einsehen und fühlte sich seinen Untertanen auf diese Weise besonders verbunden. Mit wenigen Schritten war er am Balkon, konnte die gläserne Tür öffnen und den Balkon betreten — in welchem Augenblick eine Fanfare ertönte, die im ganzen Dorf hörbar verkündete, dass der König nun auf dem Balkon stehe und Huldigungen seiner Untertanen entgegenzunehmen bereit sei.  Alfonso Primero hatte, so meinten einige Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand, vergessen, dass er eigentlich nur ein demokratisch gewählter Bürgermeister sei.  Aber mit diesen Nebensächlichkeiten kann sich ein wahrer König natürlich nicht befassen. Im übrigen ist Demokratie ja lediglich ein alle vier Jahre wiederkehrendes Ritual, das den Bürgern suggeriert, ihre Meinung sei gefragt. Welch naive Vorstellung.

In seiner Grosszügigkeit wollte Alfonso Primero nunmehr mehr Bürgern die Gelegenheit geben, ihm während seiner Balkonbesuche zu huldigen. Und aus diesem Grunde liess er die verkehrsberuhigenden Massnahmen verbieten, die den Dorfkern während der letzten paar Jahre zu einem Ort geselligen Beisammenseins und einem Spielort für die Kinder und die Dorfjugend gemacht hatte. Die diversen Kaffees hatten Tische nach draussen stellen können, wo Einheimische wie Touristen gerne Einkehr hielten, sich über diese ruhige und beschauliche Dorf freuten und Alarosien zum menschenfreundlichsten Dorf von ganz Mallorca erklärt hatten. Doch dies war königsfeindlich. Ausserdem hatte der König Verpflichtungen gegenüber einer knappen Hand voll Geschäftsleuten, denen die Verkehrsberuhigung angeblich auch eine unerwünschte Geschäftsberuhigung gebracht hatte. Einzelne Proteste, natürlich vor allem von Ausländern oder Festlandspanieren, dass verkehrsberuhigte Zonen in Städten und Dörfern in aller Welt vorangetrieben würden, weil sie ökologisch und ökonomisch vorteilhaft seien, verhallten ungehört in den Bergen von Administrativpapieren, die eine tüchtige Verwaltung stets zu produzieren bereit war. Der König wurde mit solch‘ unbedeutenden Absonderungen aus der Feder sturköpfiger Bürger nicht behelligt.

Stattdessen führte nun eine neue Hauptverkehrsader direkt an seinem Dorfpalast vorbei, und Schilder wiesen darauf hin, dass dem König, wenn er auf seinem Balkon stand, mit Lichtsignalen und lautem Gehupe Ehrerbietung erwiesen werden müsse. Am Ende des Dorfplatzes standen zwei grimmige Dorfpolizisten und verteilten jedem Autofahrer einen Busszettel, der nicht ordnungsgemäss gehupt hatte. Der Polizist und die Polizistin trugen stets dunkle Sonnenbrillen, da in ihren Augen alle Untertanen Alarosiens, insbesondere aber die Ausländer und Festlandspanier, potentielle Verbrecher waren. Durch die Sonnenbrillen konnte man sich vor ihren schlechten Gedanken schützen und musste diesen arroganten Nichtsnutzen nicht noch direkt ins Auge schauen. Grimmige Gesichter — das war das untrügliche Kennzeichen der polizeilichen Gewalt Alarosiens. Die früher freundlich lächelnden und geselligen Polizisten, die im Dorfkaffee auch mal mit dem einfachen Bürger ein Schwätzchen hielten, waren vorbei. «Ein Polizist darf nicht freundlich sein, darf dem Bürger keinen guten Tag wünschen. Denn eben jener Bürger könnte den Wunsch nach einem guten Tag ja dahingehend verstehen, dass er bei seinen Gaunereien heute möglichst erfolgreich sein sollte. Da alle Bürger grundsätzlich kriminell veranlagt sind, müssen auch Dorfpolizisten ihrer gesellschaftlichen Stellung gemäss Distanz zu den Untertanen wahren.» So hatte es der Adjutant des Königs dem obersten Polizeichef von Alarosien, Jaume Segundo, kundgetan.

Als ein Bürger Alfonso Primero darauf hinwies, dass er doch eigentlich Bürgermeister aller Bürger sei und so wichtige Massnahmen wie die Zerstörung des friedlichen Dorfplatzlebens und damit auch die Existenz von einigen Kaffees folglich mit dem gesamten Dorf besprochen werden sollten, da liess er diesen Bürger durch die beiden Dorfpolizisten erst einmal verhaften. Dann suchten sie des Bürgers Auto, das mit dem rechten Hinterrad ganz knapp eine gelbe Linie berührte, verpassten ihm einen saftigen Strafzettel von einhundertvierzig Euro und befestigen schliesslich, weil der Halter nach 10 Minuten immer noch nicht wieder bei seinem Wagen war (er sass ja im Dorfgefängnis ein), an besagtem rechten Hinterrad eine Wegfahrsperre.

„Papperlapapp,“ sagte der König von Alarosien, angesprochen auf die rüden Umgangsformen seiner Polizisten und Polizistinnen: «Ich bin gewählt. Ich habe die Macht. Und ich entscheide. Meine Polizei sorgt in diesem Dorf endlich für Zucht und Ordnung» Und weil er auch von allen Touristen angehupt werden wollte, sorgte Alfonso Primero dafür, dass alle Strassenschilder, die zu den kostenlosen Dorfparkplätzen zeigten, auf jeden Fall den Weg über den Dorfplatz wiesen. Dicke Lastwagen, fette Touristen und rücksichtslose Jugendliche fanden es aufregend, die Hauptstrasse des Dorfes entlangzurasen und zu prüfen, wer am schnellsten bis zur Banca March vordringen konnte. Quietschende Bremsen vertrieben Mütter mit ihren Kindern sowie ältere Einwohner, plötzliche Beschleunigung plättete streunende Hunde, und der Erfolgreichste bekam monatlich den „Goldenen Ellenbogen“ überreicht. Einmal erwischte ein Autofahrer ein dreijähriges Kind, das sich glücklicherweise nur einen Arm brach. Der König fragte seinen Oberpolizisten nach der Familie, und als er erfuhr, dass es sich um Engländer handelte, meinte er abwinkend: «Ach so,  Ausländer, und zudem Briten. Das macht nichts. Ein deutsches Kind hätte mir eher leid getan, denn die Deutschen standen unserer Republik vor einigen Jahrzehnten in grosser Not zur Seite.»

Um die Einnahmen zu steigern, eliminierte der König von Alarosien als nächstes kurzerhand einige Parkplätze vor der Dorfapotheke, so dass Menschen, die nicht so weit laufen können, zwangsläufig verboten parkieren mussten, um dringend benötigte Medikamente abzuholen. Auch hier lauerten der Dorfpolizist und die Dorfpolizistin und verteilten emsig ihre gelben Strafzettel. Gnadenlos wurde Jagd auf Falschparker gemacht, eine übrigens sehr erfolgreiche Jagd, denn im Königreich gab es grundsätzlich zu wenig Parkplätze.

So mehrte Alfonso Primero sein Vermögen und dasjenige des Königreiches. Und das war das Gleiche. Und als er von nunmehr schon einer ganzen Reihe von Bürgern darauf hingewiesen wurde, dass seine Regentschaft sich einem Mass an Selbstherrlichkeit näherte, das bald nicht mehr erträglich sei, liess er sie kurzerhand alle verhaften und, weil das Dorfgefängnis zu klein war, ins Fussballstadion abführen. Man hat nichts mehr von ihnen gehört.

Seither herrscht Frieden in Alarosien. Der König regiert, die Untertanen bücken sich, und alles ist gut.

Was mit der Demokratie geschehen ist?

Welche Demokratie?

 

PS: Alaró, Mallorca, immer ein Teil meiner globalen Heimat. Dieser auch ins englische und spanische übersetzte Bericht fand im Jahre 2007 nicht bei allen politischen Parteien des Dorfes Anklang. Und diejenigen, die ihn damals grinsend befürworteten, lehnen ihn heute, einige Zeit später, grimmig ab.